Sampling aus der Sicht von Dieter Schuster

01.09.2023 23:31
#1 Sampling aus der Sicht von Dieter Schuster
cl

Dieter Schuster hat bereits in 2001 nachfolgendes Statement zum Thema Sampling und Klangabstrahlung veröffentlicht.
Evtl. ist dieser Artikel ja auch heute noch für den ein- oder anderen von Interesse:
56-Bit oder Klang-Kunst? Dieter Schuster ©2001

Der Markt für digitale Sakralorgeln ist relativ klein, aber hart umkämpft.
Werbestrategen und Verkäufer ziehen deshalb gelegentlich gern im wahrsten
Sinne des Wortes „alle Register“, um ihr Produkt, Ihre Technologie in das
bestmögliche, eindrucksvollste Licht zu rücken. Dabei kommt dem engagierten
Werbe- oder Prospekttexter sowohl die allgemeine Begriffsverwirrung bei der
Beschreibung digitaler Datenformate als auch eine vielerorts anzutreffende
allgemeine Technikgläubigkeit der Käufer entgegen. Im Dunstkreis diffuser
Kundenvorstellungen und des gesunden Halbwissens beauftragter oder selbst
ernannter Berater über Bitbreiten und Sampling-Raten lassen sich so manche aus
dem Zusammenhang gerissene, unspezifische Leistungsdaten trefflich
aufpolieren - oder auch als Qualitätmerkmale für den „reinsten aller Orgelklänge
dank 24-Bit-Technologie“ gebührend herausstellen. Geschickt werden dabei
manchmal alte Äpfel mit frisch gepflückten Birnen verglichen - auf daß die
Klangkrone des eigenen Erzeugnisses möglichst heller strahle als die der nicht
minder kreativen und formulierungsstarken Mitbewerber. Zumindest im
Verkaufsprospekt.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Prospektangaben und technische Daten
sind selten bis nie frei erfunden. Spricht ein Hersteller z.B. von 16, 18 oder 20-
Bit, dann sind sie bestimmt auch vorhanden... - irgendwo. Schön wäre es
allerdings auch, genaueres darüber zu erfahren, worauf sich die jeweiligen
Angaben konkret beziehen: auf die Sample-Wortbreite, Das Speicherformat, die
Auflösung der Wandler, die Bitbreite der Akkumulatoren (das ist der Punkt, an
dem die digitalen Signale mehrerer Register zusammengeführt und rechnerisch
aufaddiert werden, damit sie über einen gemeinsamen Audiokanal
wiedergegeben werden können) oder etwa nur auf das interne Datenformat des
Effektprozessors? Spricht ein Autoverkäufer davon, daß sein neuestes Modell „4
Stück hat“, wird jeder aufgeklärte Käufer sofort nachfragen, was denn nun damit
gemeint sein mag: 4 Türen, Zylinder, Airbags oder Bremskreisläufe? Nun sind
aber Orgelkäufer selten gleichzeitig auch Entwicklungsingenieure im Fachgebiet
digitaler Signalverarbeitung. Sie fragen deshalb im Zweifel eher nicht nach, in
welchem Bereich der Hardware und zu welchem exakten Zweck 16-, 18-Bit oder
noch breitere Datenworte verwendet werden - weswegen unspezifizierte Technik-
Schlagworte hier leichter und schneller auf unkritische Akzeptanz stoßen.
Begriffsentwirrung tut not. Transparenz nutzt nicht nur dem Käufer, sondern
nicht zuletzt auch der Industrie und dem Handel, denn bei allen vollmundigen
Aussagen und Angaben über die verwendete Technik, die der durchschnittliche
Kaufinteressent ohnehin kaum seriös einordnen kann, wird allzu leicht das
Hauptkriterium für die Wahl des richtigen Instrumentes überdeckt: der hörbare,
erlebte Klang (zur Erinnerung: es geht um ein MUSIK-Instrument!). Dies ist
deshalb der hoffentlich informative, verständlich dargestellte Versuch, die
Grundzüge der im Orgelbau meistverbreiteten Basistechnologie – der Sampling-
Technik - in möglichst einfacher Form zu beschreiben und die Bedeutung von Bits
und Bytes im Orgelbau ins rechte Verhältnis zu all den anderen wichtigen
klangbestimmenden Kriterien zu setzen, welche erst in der Summe ihrer
Eigenschaften die wahre Qualität einer digitalen Orgel ausmachen. Idealerweise
wird der investitionslustige Kaufinteressent nach dieser Lektüre nämlich
überhaupt nicht mehr auf allgemeine Daten und Aussagen zur Klangerzeugung
und -Verarbeitung achten oder sein Wunschinstrument nach dem Motto „je mehr
Bit, desto beser“ auswählen, sondern die Bits dort lassen, wo sie am besten
schmecken (nämlich im Bierglas)und einzig und allein sein Ohr und Gefühl
entscheiden lassen.
Sie finden das ketzerisch? Dann lesen Sie einfach weiter, wir unterhalten uns
gern danach noch einmal darüber...
Am Anfang war die Pfeife
Sampling-Technologie (damit haben wir es bei den meisten digitalen
Sakralorgeln zu tun) fängt mit Sampeln an. Mit einem - besser mehreren -
Mikrofonen, Mischpult und DAT- oder Mehrspur-Recordern bewaffnet, nimmt man
hierbei Klangproben einer oder mehrerer Orgeln auf und verstaut sie in
digitalisierter Form auf Band oder Festplatte. Hier fällt bereits eine wichtige
Vorentscheidung über die Qualität der späteren Reproduktion im fertigen
Instrument: ermöglicht das verwendete Aufnahme-Equipment (Mikrofone, Mixer,
A/D-Wandler, Recorder) wirklich optimale, professionelle Aufnahmen? Stimmt die
Mikrofonierung (Abstand zu den Pfeifen, Aufnahmewinkel, Unterdrückung
störender Raumakustik)? Wird in Mono, Stereo- oder Mehrkanaltechnik
aufgenommen, welche digitale Wortbreite wird auf das Band oder die Hard Disk
geschrieben (meist 16-Bit linear, möglich sind aber auch 20- oder 24-Bit-
Recordingformate)? Ist die Aussteuerung der Aufnahmen optimal (jedes durch
„unterbelichtete“ Aufnahmen verschenkte Bit verschlechtert den theoretisch
möglichen Dynamikumfang und damit das Nutzsignal signifikant)? Wie viele
Klangproben (Einzeltöne) pro Register werden für die spätere Weiterverarbeitung
im „Sound-Labor“ des Herstellers aufgenommen: alle Einzeltöne eines jeden
Registers – oder Samples im Oktav-, Quint oder Terzabstand („fehlende“
Originaltöne werden dann später durch interne Transponierung gewonnen)? Ach
ja, da war doch noch etwas: Wie gut ist eigentlich das Original - die Pfeifenorgel,
deren entnommene Klangproben ja die spätere Wiedergabequalität des
elektronischen Instrumentes ausmachen sollen?
Fragen über Fragen – und dabei ist bisher überhaupt noch keine „Orgel-
Hardware“ im Spiel.
Beschneidung – mal ganz anders...
Mit den frisch gezogenen Klangproben des Pfeifenorgel-Originals geht’s in das
Sound-Labor, wo die vielen einzelnen nacheinander aufgenommenen Pfeifentöne
fein säuberlich in Einzeltöne zerschnitten werden. Dies geschieht in der Regel am
PC, manchmal in Verbindung mit einem professionellen Sampler, meist aber mit
einer Sample-Editor-Software, in der man das Audiomaterial mit Hilfe einer
grafischen Bedieneroberfläche am Bildschirm als Wellenform betrachten und
bearbeiten kann.
Das aufgenommene Audiomaterial wird hier gesichtet und sortiert. Nicht alle
aufgenommenen Pfeifentöne sind zur weiteren Be- und Verarbeitung geeignet,
während einer langen Aufnahme-Session – selbst an einer Pfeifenorgel in
vorgeblich gutem, bestens gewartetem Zustand - kann man sich gelegentlich
schon über die vielen „schlechten“ Pfeifen oder über große, teils sogar krasse
Sprünge der Klangcharakteristik zwischen zwei Halbtönen innerhalb eines
Registers wundern. Hier heißt es also: die guten ins Töpfchen, die schlechten in
den Windows-Papierkorb...
Die Hardware-Ingenieure und der mit spitzem Bleistift hantierende Kalkulator
geben ohnehin in engen Grenzen vor, wieviel Speicherplatz die Soundentwickler
für die gesamte Disposition des Instrumentes insgesamt zur Verfügung haben -
nach deren Geschmack ist es übrigens immer zu wenig. Dennoch müssen sie mit
dem Speicherplatz haushalten und mit den vorgegebenen Grenzen der Hardware
auskommen. Das geplante und dem Soundentwickler zugestandene
Gesamtspeicher-Volumen reicht besonders bei Instrumenten der unteren und
mittleren Preisklassen selbst angesichts heutzutage realisierbarer,
schwindelerregend großer Speichermengen (zum Beispiel im PC-Bereich) bei
weitem nicht aus, jeden einzelnen Ton jedes Registers einer Orgel als eigenes
Sample im ROM-Speicher unterzubringen.
Diesem theoretischen Ideal (ein Sample mit „unendlicher“ Länge pro Taste und
Register) kann man sich systembedingt selbst heute nur in kleinen Schritten
annähern und die Sound-Tüftler müssen sich beim heutigen Stand der Technik
mit durchschnittlich 3 bis 5 Original-Samples pro Register bescheiden. Jedes
Original-Sample ist damit für eine ganze Tasten-Region (zum Beispiel die Spanne
einer Quarte, Sexte oder einer ganzen Oktave) zuständig, innerhalb der beim
Spielen dasselbe Sample erklingt – lediglich in Halbtonschritten transponiert. Das
ist ungefähr so, als wenn man einen auf Tonband aufgenommenen Ton
nacheinander in unterschiedlicher Geschwindigkeit abspielt – er wird zwar höher
oder tiefer klingen, es bleibt aber immer derselbe Grundton. Übertreibt man es
mit der Abweichung der Abspielgeschwindigkeit von der Aufnahmegeschwindig-
keit, treten unschöne bis skurrile „Donald-Duck-Effekte“ auf (Sie kennen das von
Tonbandaufnahmen oder Schallplatten, die mit falschem Tempo abgespielt
werden).
Auswahl und Verteilung der Original-Samples (auch Root-Keys genannt) eines
Registers über die 5 Oktaven der Klaviatur sind also diffizile Aufgaben, die
einiges Feingefühl erfordern: die hohe Kunst des Reduzierens.
Jedes einzelne ausgewählte Sample (Einzelton) wird exakt auf den Tonanfang
und das gewünschte Ende zugeschnitten, gegebenfalls mit Filtern und sonstigen
Accessoires aus dem Soundbearbeitungs-Nähkästchen nachbearbeitet und dann
„geloopt“. Dabei werden innerhalb des Samples zwei Punkte bestimmt, beim
Abspielen dieses Samples wird die Region zwischen diesen beiden Punkten dann
wiederholend durchlaufen. Der Grund dafür: der ursprünglich aufgenommene
Ton ist ja „endlich“, d.h. irgendwann im Zeitraum zwischen einer und fünf
Sekunden hat der Organist bei der Aufnahme die Taste losgelassen und der Ton
ist abgeklungen. Beim Spielen auf der Digitalorgel will der Organist aber
verständlicherweise selbst bestimmen, wann der gespielte Ton aufhört. Also
bedient man sich hier der segensreichen Einrichtung eines „Loops“ und teilt die
gesampelte Pfeifen-Klangprobe in drei Phasen ein: die Einschwingphase – die
Zeitspanne zwischen dem Herunterdrücken der Taste und dem Zeitpunkt, an
dem sich die Luftsäule in der Pfeife vollständig aufgebaut hat und der Ton stabil
"steht", die stationäre Phase – bis zum Loslassen der gedrückten Taste,
schließlich die Ausschwingphase – das ist das jähe Ende des Tons nach dem
Loslassen der Taste, der sich je nach Art und Beschaffenheit der Pfeife mit
unterschiedlicher Charakteristik „verabschiedet“. In der zweiten, der stationären
Phase bestimmt der Sound-Entwickler nun ein mehr oder weniger kurzes
„Stückchen Ton“, das er zur „Loop“ erklärt. Beim Spielen auf der Orgel geschieht
später folgendes: das mit der Taste angesprochene Sample wird von seinem
Anfang bis zu eben dieser Loop abgespielt - man hört die für Orgelpfeifen so
wichtige und typische Einschwingphase. Anschließend wird die meist nur sehr
kurze Loop immer und immer wieder so lange durchlaufen, wie die Taste
gedrückt gehalten wird (wie der Name schon sagt: ein „Dauer-Looping“). Beim
Loslassen der Taste wird diese Loop-Schleife dann entweder weich oder mit einer
Hüllkurve versehen ausgeblendet (das klingt dann „so ähnlich“ wie eine
ausklingende Pfeife), oder es wird nun – viel besser - das tatsächlich
aufgenommene, gesampelte Ende des Pfeifentons als Release-Sample
drangehängt und abgespielt (dann hört man das natürliche Ausschwingen der
Originalpfeife).
Für die Lebendigkeit des Tons ist es von großer Bedeutung, wie lang die
gewählte Loop-Schleife ist, d.h. aus wievielen Schingungszyklen sie besteht. Je
länger die Loop, desto mehr Speicherplatz benötigt sie, je kürzer die Loop-
Schleife, desto „starrer“ und gleichförmiger klingt sie. Bei kleineren Instrumenten
verwendet man aus Kostengründen (Speicherplatz) sogenannte Single-Cycle-
Loops. Das ist ein einziger Schwingungszyklus mit einer festen, gleichförmigen
Obertonstruktur, der zwar nur sehr wenig Speicherplatz in Anspruch nimmt,
dafür aber zig-tausend mal pro Sekunde wiederholt wird und damit völlig
unbewegt und phasenstarr, sprich: leer und langweilig klingt. Ohne eine
nachträglich „aufgesetzte“ Modulation würde ein solcher Ton substanzlos, fast
wie aus einem alten analogen Dauertongenerator der sechziger Jahre klingen.
Nur dank der Fähigkeit moderner Hardware, solche Töne umfangreich und
unabhängig voneinander in Amplitude, Phasenlage und Frequenz zu modulieren,
werden solche glattgebügelten Samples wieder künstlich im Bewegung versetzt
und damit „quasi-lebendig“ gemacht. Das Ergebnis hat allerdings dann mit dem
ursprünglich aufgenommenen Klang der Originalpfeife oft nicht mehr allzu viel zu
tun. Nicht schlimm, wenn’s gut gemacht ist, schließlich soll ja ein eigenständiges
Instrument mit eigenem Charakter entstehen und kein Imitat. Fatal allerdings,
wenn der Sound-Designer versagt oder der Rotstift allzuviel
Speicherbeschränkung auferlegt. Dann ist’s vorbei mit der Herrlichkeit des
lebendigen Klangbildes. Saubere Arbeit am Sample ist daher ebenso wichtig wie
der bestmögliche Kompromiß zwischen wünschenswertem und bezahlbarem
Speicherplatz.
Klingt kompliziert – ist es auch. Sample-Bearbeitung erfordert viel Erfahrung und
Zeit, zumal ja jedes einzelne der vielen auserwählten und für
verwendungstauglich erklärten Samples im selben Umfang und mit demselben
Aufwand individuell beschnitten und bearbeitet werden muß. Alle drei Phasen
eines Tons müssen auch nach der Bearbeitung noch exakt zueinander passen,
damit keine Klangbrüche oder Knackgeräusche auftreten.
Übrigens: auch bei der Sample-Bearbeitung spielen die in Werbung und
Prospekten so gern herausgestellten „Bit-Zahlen“ quasi keine Rolle: gearbeitet
wird durchgängig im 16-Bit-Format. Die Qualität des klanglichen Ergebnisses
rsultiert vielmehr fast ausschließlich aus der Auswahl der best möglichen Einzel-
Samples eines „multi-gesampelten“ Registers, der gekonnten Bearbeitung des
Audiomaterials und der optimalen Bestimmung der Regionen/Manualbereiche, für
die einzelne Samples zuständig sind.
Zur Verdeutlichung der extremen Unterschiede im Speicherplatzbedarf zwischen
dem „Fast-Ideal-Zustand“ (je ein langes Sample pro Ton und Register) und dem
harten, vom Rotstift verordneten Alltag:
Eine Pfeifenorgel mit 20 (61-Tasten-)Manual- und 10 (30 Tasten-) Pedalregistern
hat 20 x 61 plus 10 x 30 Pfeifen (Mixturen außer acht gelassen) = insgesamt
also rund 1.500 eigenständig erzeugte Einzeltöne. Wollte man jeden einzelnen
dieser Töne mit einer durchschnittlichen Länge von 4 Sekunden sampeln und mit
einer Auflösung von 16-Bit sowie einer Sampling-Rate von 44.1kHz (entspricht
dem Datenformat einer CD) in einem Festwertspeicher unterbringen, ergäbe dies
einen rechnerischen Speicherbedarf von weit über 500 MB (Megabyte) also 500
Millionen Byte – für insgesamt ca. 100 Minuten Audiomaterial. Dabei sprechen
wir nicht etwa von „Festplattenkapazität“ oder dynamischem RAM-Speicher wie
beim PC, sondern wohlgemerkt von Festwert-(ROM) Speicherbedarf – und das
wäre angesichts der vergleichsweise sehr kleinen Stückzahlen, mit denen wir es
auf dem Spezialmarkt der digitalen Sakralorgeln zu tun haben, noch immer ein
sündhaft teures bis unbezahlbares Vergnügen.
Bei kleineren Orgeln bilden deshalb Gesamtspeichergrößen von „nur“ 4-16MB
den Durchschnitt (heutiger Stand bezahlbarer Technik). Dieser Vergleich führt
auch dem Nicht-Techniker die Notwendigkeit zur drastischen Reduzierung von
Daten deutlich vor Augen – und genau dies geschieht auch in der heutigen
Digitalorgel.
Phoenix-Prinzip oder Neuschöpfung?
Erinnern wir uns: Von einer oder mehreren Pfeifenorgeln haben wir Klangproben
entnommen, diese digitalisiert, sortiert, beschnitten, geloopt, reduziert und neu
gruppiert. Würde man nun vermuten, daß das Klangbild einer Digitalorgel, deren
Sample-Speicher eine schlichte, unbearbeitete Gruppierung dieser „Fragmente“
bildet, ein exaktes Abbild der „Originalvorlage“, mithin also quasi ein „Clone“
einer bestimmten Pfeifenorgel wäre, würde man nachhaltig eines Besseren
belehrt. Warum eine solche Erwartung mit vertretbarem Aufwand nicht erfüllbar
ist, wurde bei der vorangegangenen Beschreibung der digitalen
„Klanggewinnung“ und der notwendigen Bearbeitung der selektierten Einzel-
Samples vielleicht schon klarer. Dabei haben wir die Themen Klangmodulation,
Verstärkung und Abstrahlung bisher noch nicht näher beleuchtet – alles
Faktoren, die für das Gesamtklangbild des neu geschaffenen, digitalen Werkes
von durchaus hoher Bedeutung sind.
Mit anderen Worten: es kann kein ernsthaftes oder erstrebenswertes Ziel sein,
eine Digitalorgel zu bauen, die „ganz genau so“ wie eine ganz bestimmte
Pfeifenorgel in ihrem eigenen, individuellen Umfeld klingen soll. Dieser Versuch
wäre bereits aus den bisher geschilderten Gründen und Gegebenheiten
untauglich und zum Scheitern verurteilt. Warum sollte man bei der Digitalorgel
aber auch einfach kopieren, klonen, oder imitieren? Warum sollte man
krampfhaft versuchen, den mächtigen Klang einer Domorgel – der nicht zuletzt
auch unter tatkräftiger Mitwirkung ihrer Umgebung – nämlich der Akustik eines
riesigen Raumes – entsteht, in das Korsett einer Heim- oder Übungsorgel für den
Hausgebrauch zu pressen oder ihn in die völlig verschiedenen akustischen
Gegebenheiten eines anderen Kirchenraumes zu adaptieren? Abgesehen davon,
daß dies mit den heute verfügbaren Technologien nicht wirklich überzeugend zu
realisieren wäre, würde dies nicht zuletzt auch die vielseitigen
Klanggestaltungsmöglichkeiten der modernen digitalen Audiotechnik völlig
überflüssigerweise elementar einschränken und damit den durch optimale
Ausschöpfung der gegebenen Intonationswerkzeuge möglichen klanglich-
musikalischen Wert einer Digitalorgel bewußt herabsetzen.
Tatsächlich kann es bei der Entwicklung der Disposition einer digitalen
Sakralorgel in Wirklichkeit nur darum gehen, aus vielen digitalen „Roh-
Klangproben“ einer oder mehrerer Pfeifenorgeln eine sinnvolle und harmonische
neue Disposition zu entwickeln und diese mittels der digitalen Klangformungs-
und Bearbeitungsmöglichkeiten so zu intonieren, daß ein neues, eigenständiges,
in sich schlüssiges Instrument „aus einem Guß“ entsteht – kein Imitat, keine
Kopie, kein „Clone“.
Die Vollendung
Nach diesem eher philosophischen Exkurs steht nun noch die musikalisch
wichtigste Arbeit bevor: die Schöpfung eines neuen Instrumentes aus einer
Vielzahl von digitalen, bearbeiteten Klangproben vieler verschiedener Original-
Orgelpfeifen.
Hierzu werden verschiedene Samples der einzelnen Register zunächst so
gruppiert, daß der Klang über die gesamte Klaviatur ausgewogen, harmonisch
und bruchlos spielbar ist. Für die Verfeinerung der noch „rohen“ Register und ihre
Verschmelzung zu einer harmonischen Gesamtdisposition kann sich der „Digital-
Intonateur“ verschiedenster Hilfsmittel bedienen, die je nach Hersteller und der
eingesetzten Technologie in unterschiedlichem Umfang zur Verfügung stehen.
Einige Beispiele solcher Hilfsmittel:
- Digitalfilter – hiermit werden ausgewählte Bereiche des Frequenzspektrums
eines Registers angehoben oder abgesenkt. Damit kann der Klangfarbe eines
Registers Brillianz hinzugefügt werden oder durch Beschneiden bestimmter
Frequenzen auch ein „gedeckterer“ Charakter verliehen werden.
- Hüllkurven – mit diesem Hilfsmittel kann z.B. das Lautstärkeverhältnis
zwischen dem Tonansatz (Vorläuferton) und dem stationär klingenden Ton
nach der Einschwingphase ausbalanciert werden. Hüllkurven sind meist auch
für das charakteristische, registerspezifische Ausklingen eines Tones nach
Loslassen der Taste zuständig.
- LFO’s (Low Frequency Oscillators) – hiermit lassen sich die gespielten Töne
„in Bewegung versetzen“. beispielsweise als Tremulant – aber auch als
leichte, unperiodische und kaum wahrnehmbare Modulation eines Tones in
Tonhöhe oder Lautstärke (auch „Fluktuation“ genannt“).
Sind alle Einzelregister nach all diesen aufwendigen Arbeitsschritten „im Kasten“,
wird aus der (hoffentlich großen) Vielzahl der fertig bearbeiteten Registern eine
neue Disposition zusammengestellt. Wohl dem Hersteller, der dabei auf eine
möglichst große Bibliothek einzelner Register zurückgreifen kann! Diese gilt es
dann noch mit geschulten und feinem Gehör optimal aufeinander abzustimmen.
Dazu bieten sich die Optionen „Lautstärke pro Ton“, „Lautstärke pro Register“,
„Klangfilter/Equalizer pro Register“ und auch „Audiokanal-Zuweisung“ an. Wäre
ja auch jammerschade, wenn ein zartes Salicional ein fundamentales, kräftiges
Prinzipal durch falsche Gewichtung der Registerlautstärken bei der Intonation
deutlich übertönen würde...
An dieser Stelle endet dieser Exkurs über die Grundlagen der digitalen
Tonerzeugung für Sakralorgeln, ohne daß die Bedeutung des letzten, mit „die
Vollendung“ überschriebene Abschnitt auch nur halbwegs vollständig behandelt
werden konnte. Hier beginnt nämlich nun das für die musikalische Qualität nicht
minder wichtige Thema Verstärkung und Klangabstrahlung – aber dies verdient
eine ähnlich umfangreiche Abhandlung wie das eben beleuchtete Feld der
Tonerzeugung und Klangsynthese.
Was nach dem Studium dieser Zeilen (hoffentlich) bleibt, ist die gewonnene
Erkenntnis, daß ein „Technologieprodukt“ wie eine digitale Sakralorgel
keineswegs eine billigere Kopie einer bestimmten oder beliebigen Pfeifenorgel
sein kann, sondern ein Instrument mit einem eigenen, eigenständigen Charakter,
der durch eine Unzahl technischer Faktoren und (weit mehr noch) der Fähigkeit
der an der klanglichen Entwicklung beteiligten Personen gebildet wird.
Kritiker mögen einwenden, daß jede von Hand gefertigte Pfeifenorgel einzigartig
und unverwechselbar ist, ein Digitalorgelmodell jedoch ein gleichförmiges
Produkt von der Stange sei. Dies ist, wenn auch überzeichnet formuliert, bedingt
richtig (spezifische Intonationen und raumspezifische Klangabstrahlung
relativieren diesen Punkt allerdings erheblich), aber warum soll es ein klanglich
gelungenes und musikalisch hochwertiges Instrument nicht in mehrfacher
Ausführung geben dürfen? Das Automobil ist für die große Mehrheit der
Menschen auch erst denkbar und erreichbar geworden, als es industriell gefertigt
werden konnte – und die Serienproduktion hat der Entwicklung der Qualität
sowie des Preis-Leistungsverhältnisses alles andere als geschadet.
Kommen wir zum Ausgangspunkt diser Betrachtung und damit zur eingangs
erwähnten These über die Bedeutung von Bits und Bytes zurück: Die
musikalische Qualität entscheidet sich – wie dargelegt - nicht durch niedrigere
oder höhere „Bit-Raten“, sie ist viel mehr das Resultat des musikalisch-
klanglichen Feingefühls der Entwickler und des gekonnten Einsatzes der von der
Technik zur Verfügung gestellten Werkzeuge. Ignorieren Sie deshalb getrost
jegliche „Bit-Diskussion“ – vertrauen Sie allein Ihrem eigenen Ohr. Was Sie beim
Spiel auf einer Digitalorgel hören, sind keine „Datenströme“, sondern Musik und
Klangeindrücke.
Wenn Sie nach alledem und nach dem Lesen dieser „Entstehungsgeschichte“
einer Orgel mit digitaler Tonerzeugung gewisse Parallelen zu der Abhängigkeit
der klanglichen Qualitäten einer Pfeifenorgel von dem Talent und der
handwerklichen Fähigkeit ihres Erbauers erkennen, dann liegen Sie durchaus
richtig. Die „Werkzeuge“ mögen noch so verschieden sein – die
Wechselwirkungen und Ergebnisse liegen aber doch sehr nahe bei einander.
Heute mehr denn je...

Dieser Artikel stand fast zwei Jahrzehnte auf der HP von www.sakral-orgel.de zur Kundeninformation zum Download

Liebe Grüße vom Clemens

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