Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?

19.08.2021 10:40
#1 Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
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Moderator

Ich habe heute früh mal wieder etwas Buxtehude-Repertoire aufgefrischt – die beiden fünfteiligen Präludien in D und in g (das mit den Sextolen über ostinatem Bass). Die beiden gelten ja als die Prachtstücke des „stylus phantasticus“ und sind ja eigentlich auf Viermanualigkeit angelegt.
Gerade bei Buxtehude gibt es m.E. großen Spielraum zum "Interpretieren", zum Deuten und Auslegen. Ich frage mich da immer, wie „phantastisch“ Buxtehude sein darf/muss. Und habe gerade mal wieder synaurale Vergleiche zwischen verschiedenen Interpretationen angestellt, die sich meiner CD-Sammlung finden.

Etliche Jahre war ja die Gesamteinspielung von Harald Vogel bei MDG (auch dank exzellenter Aufnahmetechnik) das Maß aller Dinge. Denn sie beruhte auf dem zum jeweiligen Zeitpunkt aktuellen Notentext.
Als ich selber Anfang der 70er zum ersten Mal Buxtehude gespielt habe, waren die zwei Peters-Bände der „ausgewählten Orgelwerke“ allgemein im Gebrauch. Die vierbändige Beckmann-Ausgabe von 1984 war dann ein Meilenstein. Auch wenn sie inzwischen wieder überholt ist – mir leistet sie bis heute gute Dienste. Und ich werde auch dabei bleiben.
Vor Vogel gab es auf LP die Einspielung von Walter Kraft und die Teileinspielungen von Marie-Claire Alain und Helmut Walcha, die später digitalisiert wurden. Neueren Datums sind die Gesamtaufnahmen von Bernard Foccroulle, Ulrik Spang-Hansen und die Naxos-Serie mit Julia Brown, Craig Cramer, Wolfgang Rübsam u.a.
Nicht zu vergessen Ton Koopmans Aufnahmen im Rahmen der „Opera Omnia“.

Eine jüngere Gesamtaufnahme der Orgelwerke (erschienen 2002 beim Label "dacapo") stammt jedoch von Bine Kathrine Bryndorf an historischen Instrumenten in Norddeutschland, Dänemark und Schweden.

Und diese Aufnahmen favorisiere ich gegenwärtig. Denn Bine Bryndorf geht m. E. einen gesunden Mittelweg zwischen „korrekter“ Umsetzung des an manchen Stellen immer noch sehr deutungsbedürftigen Notentextes und den Freiheiten eines „phantastischen“ Spiels.
Die Interpretin ist mir schon vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, als sie zwei Orgel-CDs der Bach-Gesamtedition bei Hänssler eingespielt hatte – die Nummern 96 und 98 dieser Edition. Vor allem ihr federndes, straffes Spiel in BWV 547 habe ich damals bewundert.

Dieses präzise, glänzend durchartikulierte Spiel mit Phrasierungen, die nicht aus irgendeinem Dogma, sondern aus eigener Musikalität erwachsen sind, prägt auch die Buxtehude-Einspielung. Vor allem die Präludien nutzt die Interpretin zum subtilen Spiel mit den gestuften Klängen einer mehrmanualigen Orgel. Die Tempi in den toccatierten Passagen sind durchweg forsch, aber keineswegs überzogen. Die Fugen sind gut durchhörbar und konsequent phrasiert – heute nicht mehr selbstverständlich in polyphoner Musik. (Ich entsinne mich an einen inzwischen emeritierten Hochschullehrer, der mir mal auf einer Fortbildung verklickern wollte, dass reines Pedal-Spitzenspiel in Bachs Fugen bei jedem Themeneinsatz eine andere Phrasierung hervorbringe. Hätten wir sowas bei einem Vorspiel gebracht, hätte man uns nach Hause geschickt.)
In den Choralfantasien (Morgenstern) hört man reizvolle Subtilitäten in Ornamentik und Klanglichkeit, bei denen sie jedoch nicht das Gesamtbild aus den Augen verliert.
Ich halte diese Einspielung für die gegenwärtige Referenz, an der sich „Nachahmungstäter“ messen lassen sollten.
Intellektuelle Durchdringung des Notentextes, spieltechnische Souveränität und musikantischer Impetus vereinen sich zu einem wohlklingenden Dreiklang.
Eine absolute Ausnahme-Interpretin, die – wie ich vor Jahren bei einer Begegnung nach einem Konzert feststellen durfte – sehr bescheiden und unprätentiös auftritt. Schön, dass es sowas gibt.

LG
Michael


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19.08.2021 17:08
#2 RE: Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
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Als Schüler hatte ich auch Beckmann, da diese Ausgabe günstig zu haben war. Im Studium war allerdings Belotti dann die einzige Ausgabe, aus der man spielen durfte (Beckmann sah sich halt immer dem Vorwurf ausgesetzt stilkritisch und nicht quellenkritisch zu editieren, alle anderen Ausgaben galten als unzeitgemäß). Inzwischen möchte ich es auch nicht mehr missen. Natürlich hat diese Ausgabe ihren Preis und man muss alles herauskopieren, da man aus ihr nicht direkt spielen kann, da sie nicht stehen bleibt, aber diese Ausgabe ist einfach auch so ein Schatz an Schönheit, dass ich es nicht übers Herz bringen würde auch nur einen Bleistiftstrich in sie zu setzen. Sie ist der größte Schatz meines Notenregals und inzwischen ist sie ja auch vollendet und alle Tastenwerke sind verfügbar.

An Aufnahmen ist mein persönlicher Favorit bislang Foccroulle. Das trifft meine intuitive Vorstellung von Buxtehude mit Abstand am meisten.

Walter Kraft gefiel mir als Teenager immer gut, heute klingt es mir alles zu sehr "von damals".

Spang-Hansen hat ja fast jeder, weil die Aufnahme ständig zu Ramschpreisen verhökert wird. Ich finde sie untadelig und für den Preis der meist aufgerufen wird sehr lohnenswert, aber er trifft irgendwie nicht ganz den Ton, den ich hören möchte. Das sind aber reine Geschmackskriterien.

Ton Koopman ertrage ich als Tastenspieler nur schwer (Vokalwerke von ihm mit seinem Haus- und Hof-Ensemble jedoch liebe ich). Mir persönlich ist das alles immer zu schnell, zu hektisch, zu unruhig und überornamentiert. Ich vermisse an seinem Spiel das Monumentale und Große.

Andere Aufnahmen habe ich nicht genauer gehört. Bei Bine Bryndorf habe ich eben mal etwas reingehört und der Ersteindruck ist vielversprechend. Ihre Bachaufnahme war nicht ganz so meines, da mir der Raumakustik häufig etwas zu trocken war. Etwas mehr Nachhall hätte ich mir persönlich gewünscht. Da ist meine persönliche Grundästhetik wohl einfach eine etwas andere.

Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle. - Mauricio Kagel

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19.08.2021 17:50 (zuletzt bearbeitet: 17.12.2021 22:00)
#3 RE: Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
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Moderator

Koopman und Vogel sind mir inzwischen zu arg "phantasticus". Ich mag es indes schon, wenn die toccatierten Teile etwas "drive" haben. Der Hallanteil ist wohl eine Frage der Aufnahmetechnik. Ich arbeite in halligen Räumen grunsätzlich mit zwei Nah- und zwei Raummikrophonen. Im Vordergrund steht die Präsenz des direkten Orgelklanges. Raum kommt dann hinzu. Ich mische ihn im Recorder gleich auf die Stereo-Spur auf - dabei nehme ich, wenn es um die Darstellung polyphoner Strukturen geht, eher etwas weniger als zuviel.

Daher mag ich eher direkte Aufnahmen, es sei denn, die Komposition kalkuliert mit dem Klang des großen Raumes (Vierne, Tournemire).

LG
Michael


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19.08.2021 17:54 (zuletzt bearbeitet: 19.08.2021 17:55)
#4 RE: Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
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Ich habe damals meine ersten Buxtehude-Stücke aus der Wilhelm Hansen Edition (die Choräle) gespielt, von der ich heute noch aus dem mittlerweile recht zerfledderten Bank Komm heiliger Geist Herre Gott immer wieder spiele und es liebe… Das Notenbild hat sich eingeprägt, aber ob es historisch einwandfrei war/ist, habe ich ehrlich gesagt nie besonders hinterfragt. Mein Orgellehrer (aus der Flor Peeters Schule) legte es ganz selbstverständlich vor.

Und die Präludien und Co kamen aus der Breitkopf-Ausgabe. Bei denen fand ich den Grad der Interpretationsmöglichkeit auch immer recht offen und abhängig von Akustik, Kirchenraum und Orgel (von Dorfkirchen mit herausfordernden Furtwängler-Pneumatik-Zweimanualiger-Seit50JahrenNichtMehrGewartetOderGereinigt-Orgeln bis zu den grösseren dreimanualigen Barockorgeln in Alfeld und Hildesheim) habe ich es auch immer entsprechend gestaltet. Daher gefällt mir die Foccroulle-Aufnahme auch immer sehr gut. Ist auch nicht zu hektisch/schnell gespielt (wie von Simone Stella) und nimmt den Raumklang toll mit.
Bryndorf kannte ich noch nicht, die ersten Eindrücke (via Applemusic ist die Gesamtaufnahme verfügbar) sind aber sehr spannend! Da werd ich mal weiter reinhören. Danke für den Tipp!

Lieben Gruss
Stephan

- - -
Cavaille-Coll St. Sernin / Toulouse - oder so was in der Richtung... ;-)
Gloria Concerto 469 CC - 2021
www.orgelmusik-kelkheim.de

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21.08.2021 11:04
#5 RE: Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
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Ich spiele aus der Beckmann und der Bellotti Ausgabe. Ich achte vor allem darauf, was praktischer ist. Ich habe zur Zeit meines Studiums viel mit alter Auffügrungspraxis gemacht und auch bei Vogel Koopman etc. entsprechende Kurse besucht. Vogel ist ja eher nordisch und etwas sparsam was den Stylus phantasticus betrifft. Das kommt mir eher entgegen. Ich habe in letzter Zeit mein Buxtehude Repertoire erweitert. Der Notentext und einige Verzierungen und Durchgänge waren für mich ausreichend. Koopmans Spielart ist sehr persönlich und eigen. Wenn man ihn persönlich dabei erlebt ist das wunderbar. Er neigt ja auch bei Bach zu improvisatorischen Überraschungen. Ich würde es nicht machen, weil es erkennbar nicht mein Stil wäre. Aber bei ihm finde ich es auch aufgrund seiner jahrzehntelangen Spielpraxis alter Musik inspirierend. Seine Buxtehude Aufnahme war ein langer Wunsch von ihm. Ich meine mich zu erinnern, dass er bei den freien Stücken sehr oft Mixturen Registrierungen verwendet hat und in der Klangfarbe geblieben ist. Das fand ich ein wenig ermüdend. Vogel ist für mich immer noch Standard. Es passt zu ihm wie die Faust aufs Auge.

Viola da Gamba

seit Mai 2011   Gloria Excellent 360
seit April 2017  Gloria Concerto 355,
Seit April 2021 Nutzer von Hauptwerk

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21.10.2023 11:34
avatar  Axel
#6 RE: Buxtehude: Wieviel "stylus phantasticus" darf sein?
Ax

Inzwischen gibt es von Beckmann ja einige ergänzende Publikationen, die seine Editionspraxis offenlegen. Er scheint als Rentner Zeit zu haben. (Wobei ich mich schon frage, wie man seine Editionsarbeit bei einer A15 Stelle an einer Schule leisten kann, vermutlich waren das völlig andere Zeiten.) Das macht schon Sinn, denn meine Breitkopfausgabe hat keinen kritischen Bericht.

Seine teilweise recht rüden Schläge gegen andere Herausgeber...nun ja. Muss man nicht sympathisch finden. Seine Textkritik ist allerdings zumindest in den kontrapuktischen Stücken (Stichwort doppelter KP) gut nachvollziehbar. An anderer Stelle "korrigiert" er vielleicht doch die eine oder andere originelle Wendung "weg". Belotti bringt halt gut nachvollziehbar den Quellentext und greift nur ein, wenn es gar nicht anders geht.

Tja, die Registrierungen...Bei Harald Vogel fand ich doch einiges immer recht spekulativ, seinen Consortstil in den Fugen etwas weit hergeholt. Er schafft es dann doch immer, sehr subjektive Interpretationen quasi wissenschaftlich zu verpacken. Bei Ton ist eigentlich klar, er möchte das alles ohne Registrant machen. Wenn man sich Vogels Aufnahmen anhört, ist das eigentlich nur mit Schnitten zu machen, auch zwei Registranten dürften da ihre Mühe haben.


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