RE: Orgel der Kathedrale von Danzig/Oliva

03.08.2017 09:09 (zuletzt bearbeitet: 18.05.2021 20:53)
#1 RE: Orgel der Kathedrale von Danzig/Oliva
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Moderator

Hallo liebe Leute,

gestern waren wir in Danzig und natürlich stand auch die Kathedrale des Bistums im Vorort Oliva auf dem Programm. Es ist die monumentale Kirche eines ehemaligen Prämonstratenserklosters - außen Backsteingotik, innen barocker Stuck. Aber auch darin zeigte sich die zisterziensische Bescheidenheit: Die Innenaustattung wirkt mehr durch Form und räumliche Tiefenwirkung als durch polychrome Farbgebung und Vergoldung.
Das dunkle Gehäuse der Hauptorgel ist nur in direktem Augenschein in seiner Räumlichkeit zu erfassen. Keine Abbildung kann wiedergeben, wie gekonnt der Baumeister den Prospekt in die Westwand hineinkomponiert hat.

https://www.dropbox.com/s/vefny20679wjbb...torgel.jpg?dl=0

Denselben "3-D-Effekt" hat der Innenarchitekt auch beim Ostfenster über dem Hochaltar angewandt:

https://www.dropbox.com/s/5ow98iolatk312...enster.jpg?dl=0

Die Orgel, mit V/95 eine der größten in Polen, wurde Ende der 60er von einem regionalen Orgelbauer gebaut. Ein Teil der Register des Vorgängerinstrumentes soll wiederverwendet sein. Disposition hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Dom_zu_Oliva

Jeden Tag (!) finden im Stundentakt mehrere (!) Orgelvorführungen statt. Sie beginnen zur vollen Stunde und dauern jeweils 20 Minuten. Davon gehen allerdings schon fünf Minuten für die Ansage der Benimmregeln in mehreren Sprachen drauf ...
Ob es sich lohnt, sich eine solche Vorführung anzuhören, möge jeder selber entscheiden.
Wir waren gestern um 15 Uhr dort, das Auditorium bestand aus vielleicht 100 Leuten. Der amtierende Maestro (der Name wurde nicht verraten) eröffnete mit einem Stück, das bei mir sowohl von der Klanglichkeit als auch von der Faktur her spontan die Assoziation "Kirmesorgelmusik" aulöste. Ich vermute, ein Italiener des frühen 19. Jh, erinernd an die Clementi-Sonatinchen, die man als Klavierschüler spielen musste. Während des gesamten Stückes klingelte der Zimbelstern dazwischen ... Und er lief nicht rund ...
Das Plenum klang irgendwie scheppernd und blechern. So "intonierten" manche deutschen Regionalorgelbauer in den 50ern und 60ern, die billiges Pfeifenmaterial auf alte elektrische Laden stellten. Mager und plärrig trotz gewaltiger Registerzahl. In den abregistrierten Stellen offenbarte sich manche alte Schönheit vermutlich älterer Flöten und Grundstimmen. aber ständlig klirrte der Zimbelstern dazwischen. (Bemerkung der Hausfrau: "Merkt der nicht, dass das nervt?")
Im marienfrommen Polen sicher unerlässlich: Schuberts "Ave Maria" in einer Orgelbearbeitung. Nun ja - man muss derlei schon mögen. Dann der absolute Fauxpas: Ein pompichtes Arrangement des "Gefangenenchores" aus Verdis "Nabucco". Immerhin einige eindrucksvolle Schwellwirkungen. Nun der m.E. gelungenste Teil der Vorführung: eine ins Moderne transponierte (und zweifellos improvisierte) Darstellung einer "Gewitterszene", wie sie zu Beginn des 19. Jh. in den Programmen der "Orgelvirtuosen" üblich waren. Da kamen sämtliche Spielregister zum Einsatz, so manche originelle Zunge war zu hören - leider nur akkordisch bzw. clusternd.
Und zum krönenden Abschluss Bastis "Epidemische" - natürlich nur die Toccata. Schon in den letzten Takt schepperte eine Frauenstimme aus den Lautsprechern. Der kurze Satz sollte wohl ausdrücken: Das war's dann.
Ich hab' mir eine CD von Roman Perucki gekauft - sie aber noch nicht gehört. Da sind zwar gleich zwei "Ave Marias" drauf (Schubert und Bach Gounod), aber auch eine Menge "richtiger" Orgelliteratur. Und von Perucki habe ich einige gute Einspielungen, z.B. ein reines Buxtehude-Programm an der Riegerin in Marienstatt/Westerwald.
Wenn's denn schon Marianisches sein müsste, gäbe das genuine Orgelrepertoire immerhin Herausragendes her: Reger, Rheinberger, Buxtehude, Hermann Schroeder etc.
Gerade sind in Oliva internationale Orgelwochen und morgen Abend spielt Josef Still, der Trierer Domorganist. Von unserer Hütte aus ist es eine ziemliche Ecke bis Danzig und die Straßen sind streckenweise eher Panzergelände ...
Allein aus Regionalpatriotismus würde ich da gern hin, aber um den WAF zu puschen, müsste ich vermutlich mit dem vorausgehenden Besuche eines Mega-Schuhgeschäftes oder der genialsten Konfiserie zwischen Wiesbaden und dem Ural locken ...
Die Kathedrale von Oliva hat auch eine Chororgel, die in der Vorführung nicht verwendet wurde, wiewohl sie am fünfmanualigen Hautspieltisch hängt. Hier das Foto:

https://www.dropbox.com/s/3peaij649qcyym...rorgel.jpg?dl=0

Disposition siehe Wiki.

In der Stadt (leider gestern regelrecht vollgepropft mit Touris) gibt es zahlreiche pittoreske Ecken und Winkel. Aber sie scheint wirklich der touristische Magnet der Großregion zu sein. Das (z.T. durch ellenlange Baustellen mit beträchtlichem Staupotential augelöste) Verkehrschaos auf allen Einfalls-, Ausfalls- und Innenstadtstraßen lässt wenig Freude aufkommen. Meine Taktik, solche Besichtigungen zu machen, während die Kreuzfahrt-Touristen noch beim Frühstücksbuffet sitzen und die automobilen Touris noch im Bett liegen, scheiterte am WAF. Die Meine schläft gern länger und im Urlaub noch länger.


Wir waren auch kurz in der Marienkirche, der alten ev. Hauptkirche der freien Stadt Danzig. Sie ist heute Konkathedrale von Oliva. Und sie ist gerade flächendeckend eingerüstet. Der Besuch kostet Eintritt und an der Kasse staute sich halb Ostasien. Daraufhin habe ich meine Besichtigung auf den hinteren Raumteil bis zur Barriere und Einlasskontrolle beschränkt. Die Orgel (im Barockgehäuse) stammt von Hillebrand - näheres hier.

https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche_(Danzig)

Heute geht es nach Frombork (Frauenburg) - da steht die alte Bischofskirche des Bistums Ermland. Mal sehen, ob wir hineingehen. Der Sinn der Gnädigsten steht eher nach einer Schiffstour auf dem Haff.

LG
Michael


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